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Vergessene Nachrichten

„Agenda Cutting“, eine Gefahr (für die Demokratie)?

von: Henrike Schützmann

Filiz Kalmuk erklärte den Teilnehmenden wie sie nicht in die Agenda-Falle tappen. (Foto: Malina Möller)
Filiz Kalmuk erklärte den Teilnehmenden wie sie nicht in die Agenda-Falle tappen. (Foto: Malina Möller)

Wusstet ihr, dass Lernmittel für den Schulunterricht eigentlich kostenlos sein sollten, aber einige Bundesländer dies mittlerweile abgeschafft haben? Oder habt ihr mitbekommen, dass etwa 480.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland an der Pflege ihrer Angehörigen beteiligt sind? Wahrscheinlich nicht, obwohl man meinen sollte, dass diese Themen viel öffentliche Aufmerksamkeit verdient hätten, weil so viele Menschen betroffen sind.
 Das verantwortliche Phänomen für diese Unterrepräsentation in den Medien wird „Agenda Cutting“ genannt. Bestimmte Themen werden in den gängigen Massenmedien gar nicht oder im Vergleich zu anderen Themen sehr wenig angesprochen.

Im Angesicht der Informationsflut, ist ein Filtern der Nachrichten durch die Medien notwendig da jedes Format begrenzt wird, durch Zeitlimits im Fernsehen oder einer begrenzten Anzahl  an Seiten in den Printmedien. Außerdem haben viele Menschen nicht genug Zeit und es ist eine Entlastung, nur die aktuellen und „wichtigen“ News zu erhalten.

Filiz Kalmuk von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg kennt sich mit „Agenda Cutting“ sehr gut aus und hat sich unter anderem in ihrer Doktorarbeit damit beschäftigt. Sie sitzt im Vorstand des Vereins „Initiative Nachrichtenaufklärung“ (INA), einer medienkritischen Nicht-Regierungsorganisation, die sich Nachrichten widmet, die von den Massenmedien vernachlässigt wurden.

Ihr zufolge sind vor allem soziale und politische Themen häufiger von „Agenda Cutting“ betroffen sowie solche, die als zu kontrovers empfunden werden.

Aber wie kommt es überhaupt dazu, dass bestimmte Themen heraus „gecuttet“ werden?
 „Tatsächlich ist es so, dass es den meisten Journalist*innen gar nicht bewusst ist, dass sie da gerade ein Thema von der Medienagenda nehmen“, sagt Kalmuk, die verschiedene Journalist*innen in Deutschland befragt hat. Die Journalist*innen selektieren unabsichtlich, weil sie manche Themen als wichtiger empfinden. Häufig läge es wohl aber auch an den Strukturen innerhalb der Redaktionen. Manche Themen sollen einfach nicht publiziert werden.
 Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Verlagschef Dirk Ippen, der die Veröffentlichung der Ergebnisse seines Investigativ-Teams zum Fall Julian Reichelt im vergangenen Jahr stoppte. Ein klarer Fall von „Agenda Cutting“, findet Filiz Kalmuk.

Wenn man also Machtmissbrauch-Skandale von Ex-Chefredakteuren vertuschen kann, was wird dann noch alles von den Medien nicht thematisiert und was macht das mit unserer Gesellschaft? Stellt „Agenda Cutting“ eine Gefahr für unsere Demokratie da?
 „Eine sehr, sehr große Gefahr würde ich sagen, weil Medien eben zur Aufklärung da sind und auch zur politischen Teilhabe und wenn man darüber nicht erfährt, was stattfindet, dann können wir uns gar nicht richtig bilden.“, so Kalmuk. Massenmedien sollten so vollständig und sachlich wie möglich informieren, damit ihre Nutzer*innen auch wirklich das Weltgeschehen verfolgen können und politische Zusammenhänge verstehen. Im Extremfall könnten sonst Wahlen auf Grund von „Agenda Cutting“ anders ausgehen.

Zum Glück lässt sich aber sagen, dass das Bewusstsein für „Agenda Cutting“ immer größer wird, auch wenn vielen der Fachbegriff noch nichts sagt. Auch wird es immer schwerer Themen vor der breiten Öffentlichkeit geheim zu halten, da durch die Sozialen Medien häufig Privatpersonen schneller neue Ereignisse teilen, als es die Massenmedien können.

Um dem „Agenda Cutting“ selbst möglichst zu entgehen, ist es wichtig, sich bei verschiedenen Medien zu informieren und so aus der eigenen Blase herauszukommen, denn manche Zeitungen haben einige Themen stärker im Fokus als andere und mit einem breiten Spektrum an Medien erweitert man als Nutzer*in seinen Horizont und bekommt einen besseren Überblick. „Ganz viel bekommt man auch auf Social Media mit. Ich folge auf Instagram auch vielen Aktivist*innen und vielen kleinen Medien. Da erfährt man dann auch viele Sachen, die Leitmedien in Deutschland gerne mal vernachlässigen.“

Gerade mit alternativen Medien ist aber auch Vorsicht geboten. „Wenn man ein komisches Bauchgefühl bekommt, sollte man auf jeden Fall aufhören. Wenn einem Informationen irgendwie komisch vorkommen, sollte man immer nochmal eine zweite Meinung einholen. Zum Beispiel ein zweites Medium anschauen und natürlich auch die Quelle hinterfragen.“
 Generell lautet das Motto: Kritisch bleiben und auch etablierte Medien hinterfragen, denn „auch Medien machen Fehler“.